Familie Erde

Querdenken

2022-01-31

Querdenker fand ich immer toll - sie waren Motoren gegen den Stillstand und Garanten für neue Erkenntnisse durch Disziplin-übergreifendes Forschen.

Leider ist der ursprünglich so positiv besetzte Begriff nun von einer heterogenen Gruppe (ist es dann überhaupt eine Gruppe oder nur ein loser Haufen, der in einer einzigen Sache ähnlich denkt?) gekapert worden. Sie attributiert sich selbst als Querdenker und suggeriert damit, dass sie das bessere, weiter gefasste, nicht eingeengte Denken praktiziert. Das muss ich mir näher anschauen, denn ich will meinen positiven Eindruck vom Querdenken nicht so einfach über Bord werfen.

Die Querdenker von heute (2022) vereint in erster Linie ihre Ablehnung der staatlichen Corona-Maßnahmen. Eine solche Ablehnung steht jedem Menschen frei, wie auch jeder Mensch eine Meinung zu jedem nur erdenklichen Thema haben darf. Dies gehört in den Bereich der vom Grundgesetz geschützten Meinungsfreiheit.

Wo die Meinung jedoch in Handeln übergeht und wo dieses aus Meinungen abgeleitete Handeln seinerseits mit dem Grundgesetz in Konflikt gerät, muss genau hingesehen werden, wie ein solcher Konflikt gelöst werden kann. Ein Konflikt zwischen Meinungs - und Handlungsfreiheit entsteht schon da, wo meine eigene Freiheit (keine Maske zu tragen) zu einer Infektion (und potenziell auch tödlichen Schädigung) meiner Mitmenschen führt.

Was sagt das Grundgesetz?

Lange Zeit wurde das Grundgesetz lediglich als ein Abwehrrecht des/der Einzelnen gegenüber dem Staat aufgefasst. Im Zuge seiner in den letzten Jahrzehnten entwickelten Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht jedoch eine Verpflichtung des Staates durch das Grundgesetz herausgearbeitet, aktiv Schutz für die Bürger vor Gefahren oder den Eingriffen Dritter (also nicht nur vor staatlichen Eingriffen) zu betreiben. Vor diesem Hintergrund kann und muss das Eingreifen des Staates im Rahmen der Corona-Pandemie als eine Folge dieser Verpflichtung gesehen werden. Der Handlungsspielraum des Staates ist dabei erweitert; er kann dazu verklagt werden, seine Bürger zu schützen. Genau das tut er - wenn auch mit oft schwer nachvollziehbarer Entscheidungsfindung vor dem Hintergrund einer Flut neuer, manchmal widersprüchlicher Erkenntnisse. Ohne Einschränkungen individueller Freiheit würde der Staat dieser Schutzverpflichtung, die das Grundgesetz nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts definiert, vorwerfbar nicht nachkommen. Es ist hier also keinesfalls ein autoritäres Regime zu vermuten, welches versucht, unter Behauptung einer Pandemie oder zumindest bei der guten Gelegenheit der schnellen Ausbreitung einer für nicht wenige Menschen hochgefährlichen Krankheit, seine Herrschaft ins Unbegrenzte auszudehnen, sondern ein Staat, der - zugegebenermaßen mit zwar nachvollziehbarem, aber oft nur schwer erträglichem Schlingerkurs - seine Aufgabe ernsthaft wahrnimmt. Dies aber immer wieder mit begrenzender zeitlicher Bestimmung, damit - wie im Rechtsstaat vorgesehen - immer wieder überprüft werden kann, ob die Maßnahmen noch geeignet und angemessen sind.

Querdenker neuer Prägung ignorieren diese Rechtshintergründe gerne und definieren das Grundgesetz alleine als Abwehrrecht des/der Einzelnen gegenüber dem Staat, der kein Recht hat, Freiheit einzuschränken. Auf das Argument, die Einschränkungen dienen nur dem Schutz von Leib und Leben, ohne die auch Freiheitsrechte nicht gelebt werden können, wird oft mit der Behauptung geantwortet, dass Corona keine schlimme Erkrankung sei und dass die Berichte und Statistiken, die die Gefährlichkeit des Virus belegen, übertrieben oder gefälscht seien. Da aber inzwischen in allen Teilen der Welt sowhl hohe Corona-Opferzahlen zu beklagen sind (egal ob die Staaten eher auf Zwang oder auf Freiwilligkeit basiernde Abwehrmaßnahmen gestartet hatten), müsste - wenn die Zahlen überall steigen, auch in allen Staaten die gleiche Zahlenfälscherbande am Werke sein. Dies wiederum legt den Schluss einer hinter den Staaten geheim operierenden Clique von Verschwörern nahe, die alle zur Verfügung gestellten Informationen zu ihren Gunsten manipulieren. Wie wahrscheinlich die Existenz eine solchen Gruppe ist, lässt sich am leichtesten ermitteln, wenn man sieht, was alles von investigativen Journalist:innen herausgefunden wurde. Man merke: herausgefunden! Ein solches Vorhaben wie die Unterdrückung der Welt mit Hilfe eines Virus durch eine kleine, im Geheimen operierende Gruppe, die zwar von investigativen Journalist:innen nicht gefunden wird, wohl aber den wissenden Querdenkern schon in Teilen bekannt ist (George Soros, Bill Gates und Hillary Clienton), ist so dermaßen lächerlich, dass man sich schon den ganzen Tag lang durch Konsum der immergleichen Echo-Kammermusik berauschen muss, um nicht auf die enormen logischen Widersprüche zu stoßen, die ein solches Konstrukt mitbringt.

Hier schließt sich der Kreis der Betrachtung, was es mit den "Querdenkern" auf sich hat. Sie sind irgendwann vom geraden, logischen und folgerichtigen Denken in eine verschörungstheoretische Sackgasse abgebogen und steuern bis zum Zusammenbrechen der eigenen Überzeugungen quer.

Ein Konsum der immer gleichen Verschwörungserzählungen hat nichts mit Querdenken zu tun, oftmals nicht mal mit Denken überhaupt. Schade, dass der ürsprünglich so positiv besetzte Begriff inzwischen für krude Ideen und aggressiven Widerstand jenseits aller Diskussionen missbraucht wird.

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